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„Mittendrin, aber ruhig“

9. Juli 2018

Ein Nachbericht zum BDA Montagsgespräch über die Zukunft der Erdgeschosszonen am 25. Juni 2018.

Leerstand in innerstädtischen Einkaufslagen bereitet vielen Beteiligten in deutschen Städten Bauchschmerzen. Die jahrhundertelange Tradition einer Schichtung von Handel im Erdgeschoss und Wohnen in den oberen Geschossen in zentralen Lagen der Stadt droht sich allmählich aufzulösen. Auf der einen Seite nimmt der Onlinehandel zunehmend Raum ein, auf der anderen Seite wird besonders im Ruhrgebiet mit dem Bau von großmaßstäblichen Einkaufszentren eine eigene lokale Konkurrenz geschaffen. Das Ergebnis sind gähnende schwarze Löcher hinter Glas und gefährliche Ratlosigkeit.

© StadtBauKultur NRW, Fotograf: Sebastian Becker

Leerstand im Ruhrgebiet ist keine Seltenheit. Die Ausstellung „Gute Geschäfte – was kommt nach dem Einzelhandel?“ von Svenja Hövelmann in Kooperation mit der Landesinitiative StadtBauKultur NRW verwandelte beispielhaft eine Not in eine Tugend und präsentierte ihre Studie direkt in den leerstehenden Lokalen der betroffenen Fußgängerzone.

ZUKUNFT Erdgeschoss – Leerstand oder neues Leben für das städtische Parterre? titelte der BDA Köln und lud zu einer Podiumsdiskussion über Probleme und Chancen des Erdgeschosses ein. Dr. Hanna Hinrichs, Projektmanagerin der Landesinitiative StadtBauKultur NRW, machte mit einer Studie und Ausstellung über den Umgang mit leerstehenden Ladenlokalen den Anfang. Hinrichs unterscheidet zunächst zwischen unterschiedlichen Formen des Leerstands, die Kundenmangel und mangelnde (städte)bauliche Qualität, aber auch Strukturwandel im Quartier und Spekulation der Mietpreise als Ursache haben können. Leerstand bringe eine Abwärtsspirale in Gang, bei der eine Wertminderung der Umgebung wiederum vermehrten Leerstand der Umgebung auslöse. Hinrichs appelliert an eine Stärkung des Einzelhandels, um den sozialen Mehrwert durch Austausch zwischen Kunde, Verkäufer, Lieferant und Passant zu erhalten. Dass Städte sehr erfinderisch im Umgang mit bereits leerstehenden Einzelhandelsflächen sind, hat sie mit einer Präsentation diverser Beispielprojekte bewiesen: leerstehende Supermärkte verwandeln sich in Stadtbibliotheken, 8-wöchige Mietverträge für Händler vermeiden einen Gesichtsverlust bei ausbleibenden Einnahmen und Designer und handwerklich begabte Migranten bauen gemeinsam Modedesign-Projekte auf.[1]

© Gisela Schmitt, Lehrstuhl für Planungstheorie, RWTH Aachen

Nutzungskartierung in Aachen Nord; BMBF-Forschungsprojekt MIA – Made in Aachen; Kartengrundlage Katasterauskunft der Städteregion Aachen 2016

Dinosauriern in der Stadtlandschaft
Stadtplanerin

Gisela Schmitt vom Lehrstuhl für Planungstheorie an der RWTH Aachen forscht über die Stadtverträglichkeit bzw. Stadtaffinität existierender Mischnutzung in Gewerbegebieten anhand von zwei Fällen in Aachen-West und Aachen-Nord. Problematisch seien gemäß Schmitt die Maßstabssprünge zwischen kleinteiliger Bebauung und „Dinosauriern in der Stadtlandschaft, die ein Durchqueren des Quartiers erschweren“. Hinzu kämen Gerüche und Lärm der Fabriken und eine geringe Einsehbarkeit in das Geschehen auf den Produktionsflächen.

©Dr. Sebastian Stiehm 2015

Industriebrachen erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Wo früher die Maschinen dampften, rauchen nun die Köpfe junger kreativer Menschen in sogenannten Co-Working Spaces. Wer sich kein eigenes Büro leisten kann, mietet hier einen Arbeitsplatz und kann sich austauschen., wie hier in San Francisco. BMBF-Forschungsprojekt MIA – Made in Aachen.

Dichte und städtebaulicher Kontext Sie betrachtet viele Aspekte in diesen Gebieten jedoch als Chance, denn die erlaubte Dichte sei oft nicht voll ausgeschöpft, die infrastrukturelle Anbindung dafür umso günstiger und große, passiv genutzte Flächen laden zur Nachverdichtung ein. Ein zentraler Aspekt sei die Frage der Nutzerperspektive: Studenten, die temporär in ein Gebiet ziehen und einkommensschwache Familien haben einen ganz anderen Blick auf die Wohnumgebung als Käufer von Eigentumswohnungen. Zahlreiche Beispiele beweisen, dass Studenten und kreative Menschen von augenscheinlich marode wirkenden Industriegebieten magisch angezogen werden. Erstaunlich ist ihre Erkenntnis, dass die ansässigen Bewohner sich die Emissionen sie weder abgeschreckt haben noch zum umziehen motivieren.

Bunt gemischt: Anton + Elisabeth

©Nebel Pössl Architekten

Traditionsbewusst und fortschrittlich zugleich: das Ensemble des Wohnprojekts ‚Anton + Elisabeth‘ im Kölner Stadtteil Sülz von Nebel Pössl Architekten mit der sanierten Waisenhauskirche von Dominikus und Gottfried Böhm umfasst 147 Wohneinheiten, darunter Familien- und Seniorenwohnungen, Studentenapartments und Gewerbeflächen für soziale und kulturelle Infrastruktur.

Wie eine gelingende Symbiose zwischen Gewerbe und Wohnen bei Neubauten funktionieren kann stellte Architekt Erich Frank Pössl von Nebel Pössl Architekten aus Köln anhand des Projekts Anton + Elisabeth in Köln-Sülz vor. Das Ensemble bestehend aus Bestandsbauten, Neubau und einem Kirchenbau und umfasst 80 geförderte und 67 frei finanzierte Wohneinheiten und ist Teil des neuen Stadtquartiers auf dem ehemaligen Waisenhausgelände im Kölner Stadtteil Sülz. Die Vorgabe eines Mischgebiets zwang zu einer Einhaltung von 30% Gewerbeanteil innerhalb des Wohnungsbaus, sodass als Ergebnis neben einem guten Wohnungsmix aus nutzergerechten Einheiten für Studenten, Familien, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen auch Arztpraxen, ein Supermarkt, eine Tagespflege, eine KITA, ein Restaurant und eine Versammlungsstätte integriert wurden.[2]

Mischung braucht Management und Moderation

Was Planer wie Pössl jauchzen lässt, lässt Investoren wie Martin Frysch, Geschäftsführer der Gemeinnützigen Wohnungsbaugenossenschaft Köln-Sülz eG den Atem anhalten. Als Vertreter der Bauherrenschaft des Anton + Elisabeth Projekts berichtet er von Potenzialen aber auch Herausforderungen eines solchen heterogenen Projekts. Einerseits begrüßen Bewohner die Integration von Gewerbe wie eines REWE-Marktes im Ensemble sehr, befürchten gleichzeitig Ruhestörung durch die Anlieferungszone. Frysch sieht diese Widersprüchlichkeit gelassen und lacht, als er die Idealvorstellung von Stadtbewohnern mit „mittendrin, aber ruhig“ zusammenfasst.

©Nebel Pössl Architekten

Identitätsstiftend und adressbildent leistet die die Kirche zur Heiligen Familie, deren Anbau Gottfried Böhm 1955-1959 für das Waisenhaus baute, einen wichtigen Beitrag für die Neubelebung des Geländes. Derzeit wird sie als Veranstaltungsfläche umgenuzt. Doch wieviel Nutzung sie und die Anwohner vertragen, wird in den nächsten Jahren austariert werden müssen.

Die ehemalige Waisenhauskirche, ein Bau aus den 50er Jahren von Dominikus und Gottfried Böhm, wird aktuell noch saniert und wird im Zuge der Profanierung eine Veranstaltungsfläche bereithalten. Wieviel Besucherstrom und Lärm die Umgebung vertragen wird, muss sich in Zukunft zeigen. Drohende Klagen seitens lärmbelästigter Anwohner wurden von allen Podiumsbeteiligten als Abschreckung potenzieller Investoren in Deutschland beklagt. Dass das Projekt in Sülz so dankbar angenommen wird, habe man laut Frysch der guten Kenntnisse der lokalen Bedürfnisse der Anwohner zu verdanken.

©Nebel Pössl Architekten

Das Verschachteln der unterschiedlichen Funktionen, mit diversen auch rechtlichen Anforderungen, in ein zusammenhängendes Ensemble ist eine der großen Herausforderung während der Planungsphase.

Fassaden, die verschiedene Funktionen miteinander verbinden, würden Leerstand besser vertragen. „Da das Gewerbe bei Elisabeth + Anton auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist, werde ich keine Bauchschmerzen haben, wenn mal ein Lokal leer stehen sollte.“ so Frysch über die nachhaltige Gestaltung der Fassade. Und wie soll die Integration von Gewerbe in Wohngebieten in Zukunft gestaltet werden? Märkte wie REWE haben ihre städtebauliche Rolle bereits verstanden, indem sie dank Mehrgeschossigkeit kompakt geblieben sind und bestehende Fassaden erhalten haben. Schmitt stellt sich moderne Logistikkonzepte in Form von kleineren, elektrisch betriebenen Zuliefererfahrzeugen und angepassten Lieferzeiten vor.

Einstimmig appellieren alle Beteiligten an die Toleranz und Sensibilität der Stadtbewohner. Es gilt die Vielfalt in der Stadt anzuerkennen und das störungsfreie Wohnen als Maximum endlich loszulassen. Eine Gesellschaft, die sich zunehmend plural entwickelt, braucht in Zukunft mehr Heterogenität in der gebauten Landschaft.

Nathalie Gozdziak

 

[1] Landesinitiative StadtBauKultur NRW 2020, Gute Geschäfte – Was kommt nach dem Einzelhandel?, 2016, S. 17ff
[2] Gemeinnützige Wohnungsgenossenschaft Köln-Sülz eG

Dieser Text erschien zuerst im Magazin von koelnarchitektur.de